Willkommen im Akadien-Archiv von Ingo Kolboom und Roberto Mann !

Eine Vorbemerkung von Ingo Kolboom

 

Willkommen auf unserem „Akadien-Archiv“, das Roberto Mann und ich an dieser Stelle wieder aufbauen. Vorweg ein kurzer Rückblick.

 

Die Akadier hatte ich erstmals kennengelernt, als ich 1992 deutsche bzw. deutsch-französische Beziehungen und Politik sowie Deutschlandstudien an der Université de Montréal in Québec lehrte und bei dieser Gelegenheit auch Reisen in die maritimen Provinzen Neubraunschweig, Neuschottland und Prinz-Edward-Inseln unternahm. Das war für mich eine faszinierende Begegnung, denn von Acadiens oder von einer kanadischen Acadie hatte ich bis dato noch nie etwas gehört, selbst in Frankreich nicht. Dies mutet mit späterem Wissensstand sonderlich an, weil das Schicksal dieser frankophonen Minderheit in Nordamerika auf dramatische Weise mit der Geschichte der französischen Kolonie Nouvelle-France im 18. Jahrhundert verbunden ist.

 

Nicht nur waren diese Acadiens die ersten französischen Siedler in Nordamerika auf einer Halbinsel, die sie Acadie nannten und von den Briten später in Nova Scotia umbenannt wurde. Nicht nur erlebten sie 1755 ein Vertreibungsschicksal durch die Briten, das sie in euphemistischer Weise immer noch „le grand dérangement“ nennen und das im 19. Jahrhundert sogar Eingang in die Weltliteratur fand und von einigen Historikern später sogar in die Nähe eines Genozids gerückt werden sollte. Nicht nur führten sie im 20. Jahrhundert als eine von anglophoner Mehrheit unterdrückte sprachliche und soziale Minderheit einen aufsehenerregenden Kampf um die Erhaltung ihrer Sprache und Kultur. Dennoch, bekannter waren sie dadurch nicht geworden – ganz im Gegensatz zu ihren großen „Cousins“ oben am Sankt-Lorenz-Strom, denen die Briten nach der gänzlichen Eroberung der Nouvelle-France am Ende des Siebenjährigen Krieges 1765 eine eigene Provinz namens „Province of Quebec“ überlassen hatten. Diese Canadiens français am Sankt-Lorenz-Strom blieben auch innerhalb der Ende des 19. Jahrhunderts sich geographisch ausbreitenden, anglophon dominierten Kanadischen Konföderation in ihrer Provinz Québec eine frankophone Mehrheit. Mit ihrer „Stillen Revolution“ in den 1960er Jahren, mit ihrem spektakulären Ringen um mehr Autonomie innerhalb Kanadas erlangten sie selbst in Deutschland eine gewisse Berühmtheit - nicht zuletzt dank des legendären „Vive le Québec libre“-Rufes von General de Gaulle auf seiner legendären Québec-Reise 1967.

 

Im Schatten dieser Bekanntheit Quebecs fielen die nach dem stillen Drama ihrer Vertreibung in der kanadischen Provinz Neubraunschweig neuangesiedelten frankophonen Acadiens nicht weiter auf. Hier stellten sie inzwischen zwar fast wieder ein Drittel der Bewohner, aber ihr Kampf um sprachliche und kulturelle Selbstbehauptung, der in den 1960er Jahren parallel zur „Stillen Revolution“ der Quebecer einen Höhepunkt erreichte, vollzog sich außerhalb weltöffentlicher Sichtweite. Daher nimmt es nicht Wunder, dass die Acadiens selbst im französischen Mutterland den Rang einer weitgehend unbekannten Spezies hatten – abgesehen von ihrer Bekanntheit unter eingeweihten Franko-Kanadisten.

 

Dies zur kurzen Erklärung, warum auch ich als sogenannter Frankreichwissenschaftler bis zu meiner Reise ans Ende der quebecer Gaspésie im Sommer 1992 von der Existenz dieses auf keiner Landkarte verzeichnete Land Acadie nichts wusste und dessen heimliche Bewohner erst entdeckte, als ich an der Küste südlich fahrend immer häufiger vor den Häusern eine Flagge wehen sah, die zwar die Farben der französischen Trikolore trug, sich aber durch einen goldenen Stern im oberen blauen Segment davon sichtbar unterschied. Ich entdeckte das nationale Symbol der Akadier und mit ihm deren Gegenwart und Geschichte. Drei Wochen fuhr ich dieser Flagge nach und wandelte somit auf den Spuren der Akadier in den Provinzen Neubraunschweig, Prinz-Edward-Insel und Neuschottland bis hinein in den US-Staat Maine. Diese Eeise war eine rein private Entdeckungsreise, denn mit meinem damaligen Beruf hatte selbst Kanada wenig zu tun. Ich war damals Senior Reseach Fellow und Leiter der deutsch-französischen Programmabteilung in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Bonn, der damaligen westdeutschen Hauptstadt.

 

Das änderte sich, als ich 1994 diesen Posten verließ, um im Zuge der von mir euphorisch begrüßten deutschen Wiedervereinigung im neuen Bundesland Sachsen an der TU Dresden eine neuartige landeswissenschaftliche Professur für Frankreichstudien zu übernehmen, deren Profil ich mit dem Segen meines Ministers flugs hatten umbenennen lassen in Professur für „Frankreichstudien und Frankophonie“, weil ich dank dieser neuen Denomination alle anderen frankophonen Länder und Regionen weltweit zum Gegenstand meiner Professur machen konnte, vor allem aber das frankophone Kanada, das ich Anfang der 1990er Jahre in gänzlich anderer Mission, nämlich als Experte für deutsch-französische Beziehungen und Deutschlandstudien, kennengelernt hatte.

 

Inspiriert von meiner späten Entdeckung des französischsprachigen Kanadas und dank meiner jungen Kontakte mit Wissenschaftlern, Künstlern, Politikern und Diplomaten in Québec gründete ich schon im Juni 1994 ein franko-kanadistisches Zentrum, das CIFRAQS (Centre interdisciplinaire de recherches franco-canadiennes et franco-américaines / Québec-Saxe), das meinem Lehrstuhl angegliedert war. Damit machte ich das frankophone Amerika neben Frankreich nicht nur zu einem der Schwerpunkte meiner Professur in Lehre und Forschung, sondern auch in meiner akademischen Öffentlichkeitsarbeit.

 

Innerhalb der Hochschulen war Kanada vor allem ein Gegenstand der Amerikanistik, wenn auch weit weniger ernstgenommen als die USA. Das Quebecer Französisch führte ein ehrenhaftes Nischendasein in der romanistischen Linguistik, das Gleiche galt für Quebecer Autoren in der romanistischen Literaturwissenschaft, die mit der „Neuen Romania“ zwar alte Fächergrenzen zu öffnen begannen. Ich selbst hatte im Rahmen meiner Studien an drei verschiedenen westdeutschen Universitäten in den Jahren 1968 bis 1975 zwar auch Französisch studiert (mit Abschluss für das Höhere Lehramt), aber einer wie auch immer zu definierenden Franko-Kanadistik war ich nie begegnet. Das war auch nicht weiter erstaunlich, gab es doch innerhalb der deutschen Romanistik bzw. Französischlehrerausbildung nicht einmal für das Land Frankreich Platz für eine angemessene landeswissenschaftliche Teildisziplin wie Frankreichstudien, analog zu den Deutschland- und Österreichstudien, die ich als Student an der Sorbonne Nouvelle kennengelernt hatte.

 

Vor diesem Hintergrund war mir die Integration einer Franko-Kanadistik in meine Dresdner Professur mit den Schwerpunkten Québec und Akadien mehr als ein wissenschaftlich begründetes Bedürfnis. Es war auch Ausleben meiner Freude über diese verspätete Entdeckung eines faszinierenden kleinen frankophonen Universums im Norden Amerikas. Es war auch ein umso dringlicheres Desiderat, als das frankophone Kanada in jenen 1990er Jahren vor allem eine Domäne alarmistisch-verzerrender Medienberichte über Quebecer „Separatisten“ war. Daher nutzte ich mein erstes Forschungsfreisemester, das ich im Sommer/Herbst 1998 in Québec verbrachte, auch zu einem Abstecher nach Neubraunschweig, wo ich, diesmal in meiner Eigenschaft als Franko-Kanadist, mich dank erster Kontakte an der frankophonen Universität Moncton und mit Vertretern der communauté acadienne mich wieder näher mit den Acadiens vor Ort befassen konnte. Die Begegnung mit dem damaligen Direktor des Musée acadien bzw. Institut d’études acadiens, Maurice Basque, legte den Grundstein zu einer lebenslangen Freundschaft und fruchtbaren Arbeitsbeziehung, von denen etliche meiner Studenten profitieren sollten. Ein Jahr später, es war Anfang September 1999, reiste ich wieder nach Moncton, diesmal zum achten Sommet de la francophonie, der Gipfelkonferenz der Staatschefs frankophoner Staaten. Eine vom Quebecer Ministerium für internationale Beziehungen arrangierte Akkreditierung als Journalist ermöglichte meine offizielle Teilnahme als an diesem Frankophonie-Gipfel, der dem Austragungsort angemessen die Acadie in Rahmenprogramm aufnahm.

 

Das Gipfeltreffen war für mich eine unverhoffte Gelegenheit, mich am Rande des Kongresses erneut und diesmal mit einem erweiterten Adressbuch mit der „cause acadienne“ zu befassen und mich umfänglich zu informieren. Das war der Beginn einer zunehmend wachsenden, vom Institut d’études acadiennes vermittelten Materialsammlung für mein Dresdner CIFRAQS-Zentrum, in dem nun auch die Akadier mein neu angelegtes „Archiv der frankophonen Welt und die dazugehörige franko-kanadische Präsenzbibliothek zu bereichern begannen. Akadien und die Acadiens wurden auch fester Bestandteil meiner landes- und kulturwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen über die frankophone Welt, wenn nicht als singuläres Thema, dann zumindest als Teil vergleichender regionalwissenschaftlicher Studien (zum Beispiel France-Québec-Acadie, Bretagne-Québec-Acadie).

 

Da die Literaturwissenschaft in das Ressort eines anderen Lehrstuhls fiel, hatte ich das Glück, in dem an der Professur für französische und italienische Literaturwissenschaft tätigen Wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Robert Mann einen engagierten Mitstreiter für die akadische Literatur zu finden. Nicht nur wurde er eine zentrale Anlaufstellet für akadische Literatur, darüber hinaus wurde Dr. Mann dank seiner damals keineswegs selbstverständlichen Internetkompetenz der unentbehrliche Webmeister unserer neuen Webseite „francophonie.de“ („Von Dresden in die frankophone Welt“), auf der Akadien nun ebenfalls einen wachsenden Platz fand. Auch in dem „Schnittarchiv der frankophonen Welt“, das unter meiner Ägide von dafür zuständigen studentischen Hilfskräften analog und auch digital betreut wurde – mit geregelten Öffnungszeiten für die Studenten – wuchsen die Themenorder zu Akadien.

 

Mit Roberto Mann und mir entstand ein deutschlandweit erstes Akadien-Foyer, an dem akadische Themen auch in der Ausbildung zukünftiger Französischlehrerinnen und Französischlehrer berücksichtigt wurden, dies auch durch Studienreisen und vermittelte Praktika. Darüber hinaus wurden diese Themen auch mittels Publikationen, Vorträgen und Ausstellungen in Dresden, Chemnitz und Regensburg in eine interessierte Öffentlichkeit getragen. In diesem Zusammenhang und aus Anlass des Vierhundertjahrfeier der Akadier 2004, die wir mit eigenen Veranstaltungen würdigten, entstand das von uns beiden verantwortete Grundlagenwerk Akadien: ein französischer Traum in Amerika. Vier Jahrhunderte Geschichte und Literatur  der Akadier, erschienen 2005 im Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren Heidelberg. Es umfasst mehr als tausend Druckseiten und enthält auch, dank der Zuarbeit meines damaligen studentischen Mitarbeiters Thomas Scheufler, eine CD-ROM mit tausenden von Dateien und eine DVD mit dem arte-Film „Die Akadier. Odysee eines Volkes“ von Eva und Georg Bense (1998). Die Inhalte dieses bislang einzigartigen Grundlagenwerkes werden wir an anderer Stelle dieser Webseite dokumentieren. Die bis zu meiner Versetzung in den Ruhestand 2012 archivierten Materialien, Informationen und Quellen zu Akadien in analoger und digitaler Form dürften deutschlandweit einzigartig gewesen sein.

 

Mit dem Weggang von Dr. Mann nach Leipzig verlor ich die Kompetenz für akadische Literatur. Es gab für ihn keinen Ersatz. Das Ende nicht nur des Akadien-Foyers, sondern auch aller anderen franko-kanadistischen Profile an der TU Dresden vollzog sich schließlich mit meiner Versetzung in den Ruhestand im April 2012. Mein landeswissenschaftlicher Lehrstuhl fiel einem finanziellen Streichkonzert an der TU Dresden zum Opfer, mit ihm verschwand auch das ihm angegliederte franko-kanadistische Zentrum namens CIFRAQS und die dazugehörige Internetseite <francophonie.de>. Das inzwischen einige hundert Ordner umfassende „Schnittarchiv der frankophonen Welt“ wurde im Rahmen eines Umzugs der Fakultät zu einem erheblichen Teil als Papiermüll entsorgt, restliche Ordner wurden in einem Keller zwischengelagert.

 

Mit dem Verschwinden jener dresdenspezifischen Franko-Kanadistik, die sich international einiges Renommee verdient hatte, verschwanden auch die öffentlich sichtbaren Spuren einer Dresdner „Akadistik“. Akadien wurde in Sachsen wieder ein Geheimtipp privater Kanadaliebhaber, zu denen Menschen wie Roberto Mann und ich gehören. Das ist das Schicksal vieler universitärer Nischenfächer, soll hier auch nicht weiter beweint werden. Damit sollen auch nicht unsere universitären Nachfolger beschwert werden. Jede Generation hat ihre eigenen Herausforderungen. Doch im zehnten Jahr meines Ruhestandes, als die Universität von Moncton den Beschluss fasste, mir einen docorat honoris causa en études acadiennes zu verleihen, beschlossen Roberto Mann und ich, unseren akadischen Erinnerungen auf meiner privaten Webseite KolboomsKulturKonto einen wieder sichtbaren Raum zu geben. Das war der Startschuss zu diesem digitalen Akadien-Archiv, das sich nicht als professioneller Dienstleister versteht, sondern einzig als Ausdruck unseres privaten Interesses zu verstehen ist. Ce n’est qu'un début, nous continuons dans la mesure de nos capacités…

 

 

Dresden, im März 2022